Die Buchbotschafterin-Die Oktober Buchtipps #6
Manja, unsere Buchbotschafterin, hat mal wieder zwei wunderschöne Buchtitel für uns ausgesucht. Es geht in beiden Büchern um unser Oktober-Motto: Schließe Frieden mit dir und anderen – aber auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Wir finden, beide Bücher hören sich megaspannend an und sind vielleicht ein wundervoller Tipp für die Herbstferien.
Als ich in diesem August zwei Wochen in Norddeutschland unterwegs war, blieb ich an einem sommerlichen Abend zufällig an einem relativ neuen Leseexemplar auf meinem Tolino hängen. Gleich ab den ersten Seiten wurde ich in eine Geschichte hineingesogen und wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen:
Roy Jacobsen „Die Unsichtbaren - Eine Insel-Saga“, C.H.Beck Verlag, 2019, 613 Seiten
So habe ich mich also bei 30 Grad im Schatten gedanklich auf der kleinen, völlig abgelegenen, sturmumtosten norwegischen Insel Barrøy zu Beginn des 20. Jahrhunderts befunden. Hier wird Ingrid geboren und geprägt, sie ist das Einzelkind ihrer Eltern Hans und Maria, die sich vom kargen, harten Leben nicht unterkriegen lassen. Sie leben vom Fischfang, haben ein paar Schafe und wenige Kühe. Immer mal wieder kommen Verwandte von anderen Inseln zu Besuch oder leben länger dort, wie Hans‘ viel jüngere und unverheiratete Schwester Barbro, und dann kommt Leben in die Bude und ...
„alle reden unentwegt und wild durcheinander, denn die Wörter häufen sich an in den Inselbewohnern, und einmal müssen sie raus. Wenn sie sich leer geredet haben, fahren sie wieder nach Hause und sammeln neue Sätze auf.“
Auf der Hauptinsel gibt es die Schule und die Handelsstation, und es dauert jeweils eine Ruderstunde, um dorthin zu kommen, bei stürmischer See auch länger. Nach ihrer Schulzeit kommt Ingrid als Hausmädchen zu feineren Leuten auf der Hauptinsel, doch immer plagt sie Heimweh. Als der Vater überraschend stirbt und die Mutter darüber in Trauer versinkt, übernimmt Ingrid zusammen mit Barbro den Hof. Ingrid weiß, was sie will und geht sehr selbstbestimmt durch ihr Leben.
Doch bald bemerken auch die Bewohner dieser abgeschiedenen Inseln, dass sich die politischen Zeiten ändern, die Schrecken des 2. Weltkriegs werden spürbar. Besonders für Ingrid, als ein schwer verletzter russischer Soldat, Alexander, regelrecht angespült wird auf Barrøy. Sie pflegt ihn gesund, doch seine Hände weisen starke Verbrennungen auf und bleiben verstümmelt. Mit ihm erlebt sie einige Wochen lang eine leidenschaftliche, aber wortlose Liebe, bis er sich mithilfe von hilfsbereiten Schleusern zu Fuß in seine Heimat Russland aufmacht – in den letzten Wirren des Krieges, wo niemand weiß, wer mit den Deutschen kollaboriert oder wem man trauen kann - ein gefährliches Unterfangen.
Ingrid bringt neun Monate später ihre Tochter Kaja zur Welt, und da sie nie wieder etwas von Alexander gehört hat, beschließt sie, sich auf die Suche nach ihm zu machen. Mit dem Baby auf den Bauch gebunden, begibt sie sich auf die Pfade, die ihr Geliebter vor dem Winter gegangen ist, trifft auf Leute, die sich an ihn erinnern, aber manchmal auch ihr Wissen zurückhalten. Ihr Weg ist mühsam, aber Ingrid ist hartnäckig …
Jetzt mache ich Schluss, sonst verrate ich zu viel. Das Ende des Romans ist umwerfend und hat sehr viel mit dem Monatsmotto: Schließe Frieden mit dir und anderen - zu tun.
Hätte mir jemand nur inhaltliche Stichpunkte zum Roman genannt, hätte ich wahrscheinlich abgewunken. Aber es ist die ganz besondere Sprache von Roy Jacobsen (der in Norwegen eine Berühmtheit ist und mit dieser Saga, die original in drei Teilen erschienen ist und für einige internationale Literaturpreise nominiert war), die eine unbekannte Welt entstehen lässt. Stellenweise ist es Naturbeschreibung pur. Die Menschen werden nicht psychologisiert, sondern durch ihr Handeln charakterisiert, manchmal schwer nachvollziehbar, aber gerade deshalb spannend.
Es wird wenig gesprochen, und manches bleibt rätselhaft, aber das hindert einen nicht daran, in diese lange Erzählung einzutauchen und den Fortgang bis zum überraschenden Ende zu genießen.
Norwegen ist dieses Jahr das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, weshalb wir nun das Glück haben, endlich viele norwegische Autoren in Übersetzung lesen zu können.
Für meinen 2. Buchtipp, den einige von euch vielleicht schon kennen, musste ich nochmal ganz schön in meiner Erinnerung kramen, denn mir war von
Ian McEwan „Abbitte“, Diogenes Verlag, 2002, 534 Seiten,
neben einem vagen Umriss der Handlung nur noch das starke Thema – nämlich Schuld und Vergebung zwischen zwei ungleichen Schwestern – präsent.
Und ein Gefühl von Melancholie, das diesen großartigen Roman umgibt.
In vier Kapiteln und aus verschiedenen Perspektiven nimmt uns Ian McEwan mit in seine Geschichte um die 13-jährige Briony Tallis, die an einem der heißesten Sommertage 1935 auf dem Familien-Landsitz beginnt. Sie ist ein ziemlich altkluges, sehr phantasiebegabtes Mädchen, das gern Schriftstellerin werden will, und beobachtet an diesem Tag seltsame Vorgänge zwischen ihrer zehn Jahre älteren Schwester Cecilia und dem Sohn der Haushälterin, Robbie Turner, die sie nicht versteht und als eine Bedrohung für ihre Schwester interpretiert, dabei sind die beiden nur frisch verliebt. Viele Familienmitglieder und Freunde sind an diesem Sommertag anwesend, so auch ihre 15-jährige Cousine Lola mit ihren jüngeren Zwillingsbrüdern sowie Brionys größerer Bruder Leon mitsamt Kumpel Paul Marshall.
Als abends Lola das Opfer einer Vergewaltigung wird, bezichtigt die kurz danach hinzugekommene Briony Robbie der Tat, sie hat den weglaufenden Täter zwar nur schemenhaft gesehen, ist aber ihrer Sache ganz sicher. Robbie wird verhaftet und später zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Cecilia glaubt an Robbies Unschuld und ist am Boden zerstört. Sie will nie wieder etwas mit Briony und der Familie zu tun haben, lässt ihr Studium ungenutzt und arbeitet fortan als Krankenschwester.
Was ihre eigene Tat der vorschnellen Anklage auch mit Briony selbst macht, die sich im Laufe der Zeit immer mehr ihrer Schuld bewusst wird, sei hier nicht verraten. Nur, dass wir im letzten Kapitel nach einem großen Zeitsprung wieder im Leben der erfolgreichen 77-jährigen Schriftstellerin Briony Tallis landen und letztendlich durch sie nochmals eine Umdeutung des bisher Erfahrenen geschieht.
Das ist hohe literarische Kunst, denn es wird nicht nur eine spannende und ergreifende Geschichte erzählt, sondern gleichfalls deutlich, dass jeder die Interpretationshoheit über das eigene Leben in Händen hält - nicht nur als Schriftstellerin. Und jede kann am Ende entscheiden, mit wem sie Frieden schließen kann oder mag.
Auch die Verfilmung aus dem Jahr 2007 von Joe Wright mit Saoirse Ronan, Keira Knightley und James McAvoy ist toll gelungen, und es ist ein großes Vergnügen, ihn nach so langer Zeit mal wieder anzuschauen.
Genießt den Herbst ...
wir freuen uns auf eure Kommentare und Anregungen.
© FTF, Sabine Fuchs und Ulrike Heppel
All rights reserved. Do not use our pictures and content without our permission.
Alle Fotos und Texte sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nicht ohne unsere Einwilligung übernommen und verwendet werden.
Kommentare
Hallo Ihr 2 - heute habe ich gesehen, daß Ihr beim Texterella Brunch ward. Leider hatte ich keine Zeit an diesem Tag. Wir haben uns mal in München bei einem Treffen kurz kennen gelernt.
Über Buchtipps freue ich mich immer, da ich gerne lese. Die Unsichtbaren - hört sich spannend an die Geschichte, doch manchmal mag ich so schweren Stoff nicht mehr lesen - Abbitte - da kenne ich nur den Film der mich total gefesselt hat. Herzliche Grüße Gabi
Liebe Gabi,
vielleicht klappt ja ein Treffen ein anderes Mal. Ich werde auf alle Fälle die Unsichtbaren lesen. Abbitte habe ich schon auf Empfehlung von Manja gelesen. Ich finde ihre Buchtipps klasse :))
LG
Sabine
Wir freuen uns auf deinen Kommentar