30•01•2020 ••

Die Buchbotschafterin – Januar Buchtipps #8

Manja, unsere Buchbotschafterin

Nach einer etwas längeren Pause wegen des Weihnachtsgeschäfts, das jede Buchhändlerin zeitweilig an ihre Grenzen bringt, habe ich endlich wieder zwei Buchtipps mit einer kleinen Zugabe für euch.


Diesmal sind es Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe und die immer noch nachwirken:


„Der Salzpfad“ von Raynor Winn, Dumont Verlag, 329 Seiten

Stell dir vor, du verlierst deine Existenz, weil der beste Freund deines Mannes euch betrogen hat, du wirst obdachlos und dein Mann bekommt oben drauf noch eine niederschmetternde Krankheitsdiagnose – eine unheilbare, schmerzhafte Nervenkrankheit wird nach und nach seine Beweglichkeit einschränken.

Das ist die Ausgangssituation, in der Raynor und Moth sind, als sie völlig spontan und gänzlich unerfahren beschließen, den über 1000 km langen South West Coast Path von Wales bis Dorset zu wandern. Ihre letzten Habseligkeiten haben sie bei Freunden untergestellt, die beiden Kinder studieren bereits, d.h. sie sind ausgezogen, und eher verzweifelt als fröhlich starten sie in dieses Abenteuer.

Was nun folgt ist ein Reisebericht oder ein „Memoir“, keine fein geschliffene Literatur, sondern eher ein Report aus dem Leben von unfreiwilligen Vagabunden. Raynor und Moth haben nur sehr wenig Geld zur Verfügung, das von einer Art Sozialhilfe monatlich auf ihrem Konto landet. Sie campen wild oder kommen bei Leuten unter, die ihnen freundlich helfen. Aber es gibt auch Wanderer, die sich sofort abwenden, wenn die zunächst bewunderten vermeintlichen Aussteiger sich als Obdachlose outen. Oft haben sie richtig Hunger, essen nur billige Nudelsuppen vom Campingkocher oder Löwenzahn vom Feldrand. Duschen tun sie sehr selten, und die Klamotten werden höchst selten mal in Flüssen gewaschen. 

Raynor Winn findet wunderbare Worte für ihre ausführlichen Natur- und Wetter­beschrei­bungen. Dieser Weg am Atlantik entlang ist häufig alles andere als idyllisch, und das Meer ist auch nicht immer sanft. Und immer schimmert eine (britische?) Selbstironie hindurch, selbst die aussichtslosesten Situationen werden niemals weinerlich darge­­stellt. Ein starker Über­lebens­wille kommt immer wieder hervor. Die beiden 50-Jährigen, die seit ihrem 18. Lebens­jahr zusammen sind, retten sich immer wieder gegenseitig. Raynor Winn lässt uns auch daran teilhaben, wie das monatelange Gehen den Körper verändert, kräftiger und widerstandsfähiger macht, und sogar Moth, dem die Ärzte hauptsächlich Ruhe und keine körperlichen Anstrengungen empfohlen hatten, bemerkt eine Verbesserung seiner Gesundheit. 

Das besonders Beeindruckende dieses Debüts ist, dass die Autorin es schafft, uns diesen Weg, den sie mit ihrem Mann gehen musste, ohne Sentimentalitäten wirklich mitempfinden zu lassen, es entsteht ein regelrechter Sog beim Lesen, und das Ende passt überraschend gut zu diesem außergewöhnlichen Reisebericht eines einmaligen Paares.

 

Dörte Hansen „Mittagsstunde“, Penguin Verlag 2018, 242 Seiten

Bestimmt hat die eine oder andere von euch diesen Roman schon gelesen, schließlich stand er letztes Jahr lange auf den Bestsellerlisten – alle, die ihn noch nicht kennen, möchte ich davor bewahren, ihn zu verpassen.

Die Geschichte spielt in Brinkebüll, einem fiktiven Dorf nahe der dänischen Grenze. Hier ist Ingwer Feddersen bei seinen Großeltern Sönke und Ella Feddersen aufgewachsen. Ingwer geht auf die 50 zu, er ist Dozent für Archäologie und Frühgeschichte an der Uni in Kiel. Die Großeltern führen zwar noch mit Ach und Krach den Gasthof in Brinkebüll, werden aber langsam dement und pflegebedürftig. Ingwers Mutter Marret war 17, als sie ihn bekam – wahrscheinlich war ein Landvermesser der Erzeuger, so genau weiß sie das nicht mehr. Sie geistert als verwirrte Seherin durch den Ort und warnt die Leute vor­ dem Weltunter­gang, ist also nicht wirklich in der Lage, sich um ihre Eltern zu kümmern. Deshalb nimmt Ingwer ein Sabbatical, verabschiedet sich aus seiner Kieler Dreier-WG mit seinem Kumpel Claudius und seiner Langzeit-on-and-off-Liebe Ragnhild und zieht zurück in sein Heimatdorf.


„Er wollte es. Er holt sich hier etwas ab, was ihm noch fehlte. Einen Nachschlag Brinkebüll. Er fand Dinge wieder, die er noch gebrauchen konnte, manches hatte er schon fast vergessen. Die Gerüche und Geräusche des Hauses. Das Gefühl für dieses Dorf, das viel mehr von ihm wusste als er selbst.“


Ein Jahr verbringen wir mit Ingwer in Brinkebüll. Wir lernen nach und nach die Dorfbe­wohner kennen, die dauerlesende Tochter des Bäckers, den Lehrer, die Bauern. Wir folgen den beiden Erzählebenen zwischen den 1960er-Jahren und der Gegenwart, die sich zu einem vielschichtigen Dorfkosmos verdichten, und wir begleiten Ingwer beim nicht immer lustigen Pflegen seiner gebrechlichen Großeltern und der Vorbereitung von deren Gnadenhochzeit nach 70 Ehejahren. 

Dörte Hansen ist eine meiner liebsten Autorinnen, weil sie so eine begnadete Art hat, menschliches Verhalten unprätentiös und zugleich poetisch zu beschreiben – und zugegeben – auch weil sie aus derselben Gegend kommt, in der ich aufgewachsen bin. 

Auch wenn es hier um den traurigen bis drögen Tatbestand der Flurbereinigung geht, der in den 1960er- und 1970er-Jahren die Kleinländerei beenden sollte, Straßen begradigte und lange, geschwungene Kastanien-Alleen verschwinden ließ, wird das elegant in die Handlung geflochten und bekommt dadurch erst richtige Wucht. Die Veränderung eines Dorfes und das Verschwinden der Mittagsstunde, in der alle zur Ruhe kamen und niemand gestört werden durfte, bedeuten hier die unwiederbringliche Auslöschung eines jahrhundertealten bäuer­lichen Lebensraumes und erklärt auch das Ende der Sesshaftigkeit. Das hat etwas Melancho­lisches, aber durch Hansens schöne, rhythmische Sprache, gern auch mal auf Plattdeutsch, bleibt es weit entfernt von Sentimentalität. Es war nicht alles besser früher, nur anders, aber das ist nun endgültig vorbei. Nur „der Wind war immer noch der alte“.

 

Mein Kurztipp zum Schluss ist für alle, die schon über ihren Jahresurlaub nachdenken – oder einfach Spaß daran haben, über die Beschwerlichkeiten des früheren Reisens oder Besonderheiten der Reiseziele zu lesen:

Baedeker’s Handbuch für Schnellreisende, Karl Baedeker Verlag/DuMont, 384 Seiten 

In einem handlichen, hübsch gestalteten Hardcover mit knallpinkem Schnitt präsentiert der einstmals größte Reisebuchverlag den Lesern eine Sammlung von kommentierten Auszügen aus den populären Reiseführern vor über 150 Jahren:

1897 wurde Ägyptenreisenden dringend geraten, nur an windstillen Tagen und mithilfe von mindestens zwei Beduinen die Pyramiden zu besteigen. Eventuell könnte auch noch ein dritter Helfer nötig sein, der einem von hinten schiebend hilft, die ca. 1 m hohen Stufen zu erklimmen. (Heute ist dies übrigens unter Androhung hoher Gefängnisstrafen gänzlich verboten.)

1859 wird für Berlin genau aufgelistet, dass man vom „Brandenburger Thor bis zum Anfang der Linden 157 Schr.“ benötigt. Der Baedeker war als erster Schrittzähler seiner Zeit weit voraus.

1904 waren in New York 2800 Briefkästen in der ganzen Stadt verteilt, die 12-25mal täglich geleert wurden, damit die Briefe 3-9mal dem Empfänger übergeben werden konnten.

Aber ob man 1859 Lust bekommen hätte, nach Hiddensee zu fahren? „Wer Zeit hat, mag in Wieck ein Boot nehmen, und die nahe Insel Hiddensöe besuchen, deren Bewohner, ein dürftiges Naturvolk, ihr armseliges Fischerleben in elenden Hütten zubringen.“


So, und mein Favorit ist ganz klar „Der Salzpfad". Ich finde, das hört sich megaspannend an und ich freu mich richtig darauf, es zu lesen. Was wird denn euer nächstes Buch? Wir sind gespannt. Oder habt ihr eine Anregung, wozu ihr gerne mal einen Rat von unserer Buchbotschafterin haben wollt? Dann her damit ;-)

Kommentare

Kathrin
31•01•2020
Danke für die ausfühlichen Tipps! "Altes Land" von Dörte Hansen mochte ich sehr und das neue Buch steht schon auf meiner Wunschliste. Auf "Der Salzpfad" bin ich gespannt, Leseprobe ist schon herunter geladen. Herzlichen Gruß!
FTF, Uli Heppel
31•01•2020
Liebe Kathrin, wie schön, dass wir dich inspirieren konnten. Das wird Manja sehr freuen. Wir sind gespannt, wie dir "Der Salzpfad" gefällt. Sag doch mal Bescheid. Viel Spaß beim Lesen. ♡Uli
Reyhan
31•01•2020
Mittagsstunde ist wirklich sehr, sehr empfehlenswert! Danke für den Tipp „Der Salzpfad“. Das Buch hätte ich nie gefunden
FTF, Uli Heppel
01•02•2020
Liebe Reyhan, das freut uns sehr, dass wir dich mit einem neuen Buch-Tipp erfreuen können Wir wünschen dir ganz viel Spaß beim Lesen. ♡Uli
Uta Robbe
31•01•2020
Wie immer findest du, liebe Manja, so inspirierende, leseneugierig machende Worte, dass ich es kaum erwarten kann, den Buchhändler meines Vertrauens schnellstmöglich aufzusuchen. Ich werde auch mit dem Salzpfad anfangen und mich jeden Abend auf's Zu-Bett-gehen freuen, weil mich das Buch auf dem Nachttisch erwartet. Danke für deine wundervollen Lesetipps! Mach weiter so, bitte!
FTF, Uli Heppel
01•02•2020
Liebe Uta, ich bin mir sicher, dass deine netten Worte Manja inspirieren werden, auch weiterhin so tolle Buch-Tipps für uns zu finden. Ich persönlich finde den Salzpfad auch total spannend und werde ihn als nächstes lesen. Viel Spaß dir. ♡Uli
FTF, Sabine Fuchs
01•02•2020
Liebe Manja, ooh der Salzpfad ist echt nach meinem Geschmack :)) Muss ganz dringend wieder in Urlaub fahren und lesen. ♡ Sabine

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