FTF Die Buchstaplerin #27 - Schwimmbad-Vibes
Es ist in diesem Bücher-Frühjahr und -Sommer schon auffallend, wie viele Buchcover uns in Blautönen mit Schwimmbädern und Frauen in Badeanzügen entgegenleuchten und uns mit Urlaubsfeelings gute Laune machen möchten. Für mich hat dieser Trend im letzten Jahr mit Ewald Arenz` „Der große Sommer“ begonnen, in dem Beate in ihrem flaschengrünen Badeanzug unser Leser*innenherz erobert hat. Aber auch in diesem Jahr verstecken sich hinter den vielen Schwimm-Covern die unterschiedlichsten Geschichten, Romane und Essays – lasst uns abtauchen in den literarischen Rausch der Tiefe!
„Alles, was die Schönheit des Schwimmens ausmacht, bleibt in Bewegung, wie das Wasser.“
(Kirstine Bilkau)
Eine feine Perle voller Erinnerungen und Sommergefühle ist der kleine, poetische Roman „Seemann vom Siebener“ von Arno Frank (Tropen Verlag), der von einem einzigen Tag im Freibad erzählt, an dem die unterschiedlichsten Menschen eines kleinen Ortes in der Provinz aufeinandertreffen, sich begegnen und am Ende wieder ihres Weges ziehen: Bademeister Kiontke, den ein traumatischer Badeunfall bis heute verfolgt, die Rentnerin Isobel, bei der Realität und Traum durch ihre Demenz immer mehr verschwimmen, die Erzieherin Melanie, die regelmäßig mit ihrer Kindergarten-Gruppe zum Üben kommt, Josefine und ihr Jugendfreund Lennart, die sich nach vielen Jahren im Schwimmbad aufgrund eines Todesfalles wiedertreffen und die Ich-Erzählerin, die unbedingt heute den „Seemann vom Siebener“ machen möchte. Was recht unspektakulär klingt, ist ein vielschichtiges Portrait eines Sommertages – voller Nostalgie inklusive Pommes, Flipperautomaten, Chlorgeruch, Arschbomben und Unbeschwertheit –, ein Kaleidoskop persönlicher Geschichten und eine Liebeserklärung an die Institution „Freibad“, das viele von uns mit prägenden Erlebnissen in der Jugend verbinden. Ein witziges, bittersüßes, kurzweiliges und sehr stimmungsvolles Buch, das den Sommer perfekt widerspiegelt und durch die einzelnen Momentaufnahmen weit mehr Tiefe hat, als die ersten Seiten vermuten lassen. Ein besonderes Sommerbuch, nicht nur fürs Freibad!!
Eine komplett andere Geschichte, in dem aber auch ein Schwimmbad eine zentrale Rolle spielt, ist Daniel Glattauers neuer Roman „Die spürst du nicht“ (Zsolnay Verlag), wo er wie auf einem Klavier mit Emotionen spielt, alles in Frage stellt und viel Stoff zum Nachdenken gibt!! Der Autor entführt seine Leserschaft in die sonnige Toskana, in der sich die befreundeten Familien Binder und Strobl-Marinek mit ihren drei Kindern eine Auszeit in einem exklusiven Landhaus gönnen – Luxus inklusive! Mit dabei ist auch eine Freundin der ältesten Tochter, Aayana aus Somalia:
„Und es war ein wahres Husarenstück der Strobl-Marineks, das somalische Flüchtlingskind mit auf die Reise zu nehmen, Aayana aus der muslimischen Zwangsjacke ihrer Familie zu schälen, vorübergehend vom Kopftuch zu befreien und in eine Geländelimousine zu setzen, die sie in echte europäische Sommerferien der gehobenen Klasse bringen würde.“ Scharfzüngig, überspitzt und sehr treffsicher beschreibt Glattauer die Unterschiede der Gesellschaftsschichten.
Die scheinbare Idylle der ersten 40 Seiten mit Prosecco und Antipasti findet ein jähes Ende, als Aayana ertrunken im Pool gefunden wird. Der Urlaub ist vorbei, die beiden Familien reisen zurück nach Österreich und versuchen dort ihr „altes“ Leben wieder aufzunehmen. Elisa Strobl-Marinek gerät als Grünen-Politikerin ins Visier der Öffentlichkeit, erst recht als der tragische Tod ein juristisches Nachspiel hat. Aber auch die 14-jährige Sophie Luise, die mit Aayana befreundet war, leidet unter Schuldgefühlen und hat niemanden, mit dem sie richtig reden kann, die Erwachsenen nehmen sich dafür keine Zeit und verschanzen sich hinter ihrer Arbeit. Da lernt sie im Chat den mysteriösen Pierre kennen, der sie versteht, ernst nimmt und immer für sie da ist … bahnt sich hier die nächste Katastrophe an?
Glattauer verbindet Sprachwitz, spannende Szenen, gekonnte Dialoge abwechslungsreich mit Pressemitteilungen, Chats und Kommentaren aus Internetforen und ergänzt damit die Geschichte mit Stimmen aus der Öffentlichkeit – dabei schaut er genau hin, portraitiert gnadenlos die Doppelmoral unserer Gesellschaft, gibt den weniger Privilegierten eine Stimme und stellt die Frage:
Was ist ein Menschenleben wert? Und ist jedes gleich viel wert?
Denn es geht in erster Linie „um Menschen, von denen wir nichts wissen wollen, weil wir sie nicht spüren“. Ein äußerst gelungenes Portrait unserer Zeit, Gesellschaftskritik vom Feinsten und ein kurzweiliger Pageturner von der ersten bis zur letzten Seite!!
Der letzte Sommer zwischen Schulabschluss und Neubeginn ist ein ganz besonderer, liegen doch so viele Abschiede und Ungewissheiten in der Luft. Anne Müller erzählt in ihrem 80er-Jahre-Roman „Wer braucht schon Wunder“ (C. Bertelsmann Verlag) von Lika, die gerade ihr Abitur gemacht hat und nun ihren letzten Sommer vor Studienbeginn in ihrem Heimatort an der Schlei verbringt. Um sich etwas Geld zu verdienen, kellnert sie im ortsansässigen „Kakadu“, verliebt sich Hals über Kopf in den französischen Koch Antoine und stellt heimlich Nachforschungen über ihre verstorbene Mutter an, denn sie hat schon länger das Gefühl, dass ihr Vater nicht ganz offen mit der Wahrheit umgeht. Hin- und hergerissen zwischen Vorfreude, Aufbruch und Abschiedsschmerz, zwischen leidenschaftlicher Liebe und familiärer Verbundenheit, zwischen Geheimnissen und ehrlicher Transparenz fährt Lika mit ihren Gefühlen Achterbahn und sie muss erkennen, dass Erwachsenwerden Licht und Schatten mit sich bringt …
Ein leichter und liebevoll erzählter Sommerroman, in den man abtauchen, entspannt baden und anschließend beglückt mit 80er-Feelings im Herzen wieder auftauchen kann! Perfekte Unterhaltung!
Tilda, Mitte zwanzig, studiert Mathematik, jobbt an der Kasse im Supermarkt und geht zum Ausgleich jeden Abend ins Freibad, um dort ihre „22 Bahnen“ zu schwimmen. Der berührende Debütroman von Caroline Wahl (DuMont Verlag) erzählt von einer dysfunktionalen Familie im hier und heute: Tilda lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter und ihrer 10-jährigen Schwester Ida in einer kleinen Wohnung und fühlt sich für alles verantwortlich: für ihre Mutter, die keinerlei Verantwortung übernimmt, für Ida, die seltsame Monster-Bilder malt, für den gemeinsamen Lebensunterhalt und für ihr Studium, dessen Zukunft im Ungewissen liegt. Ihre Freundinnen haben den kleinen Ort längst verlassen, allein Tilda kann aufgrund ihres großen Verantwortungsgefühls die Familie nicht allein lassen. Als sie im Schwimmbad Viktor kennenlernt, der auch immer genau 22 Bahnen schwimmt, und sie fast zeitgleich eine Promotionsstelle in Berlin angeboten bekommt, beginnt Tilda von Freiheit und neuen Möglichkeiten zu träumen. Aber kann sie ihre Chancen nutzen und sich von ihren familiären Verpflichtungen freischwimmen?
So hart und traurig der Alltag der Schwestern beschrieben ist, so liebevoll und zärtlich gehen die beiden miteinander um. Caroline Wahl versteht es ausgezeichnet, Stimmungen einzufangen, den Balanceakt zwischen Tragik und Humor zu meistern und eine bildhafte Sprache zu verwenden, die immer punktgenau das Leben der drei widerspiegelt.
Eine sehr warmherzige, ehrliche und hinreißende Geschichte über das Erwachsenwerden in der Mitte unserer Gesellschaft!
„Wir werden fliegen“ von Susanne Gregor (Frankfurter Verlagsanstalt) hat zwar ein wunderbares Schwimm-Cover, aber inhaltlich ist es ein einfühlsames Portrait zweier Geschwister, die sich durch die Umbrüche in Europa für unterschiedliche Lebenswege entschieden haben und sich trotzdem verbunden fühlen.
Als Misa erfährt, dass ihr Bruder Alan spurlos verschwunden ist, kommen in ihr alte Gefühle und Sorgen hoch: Kurz vor der Wende verschwand Alan und floh Hals über Kopf aus der Tschechoslowakei in den Westen. Seither ist viel Zeit vergangen, die restliche Familie ist nach Wien gezogen, aber die intensive Verbindung zwischen Bruder und Schwester wurde nie mehr wie früher. Alan ist mittlerweile ein erfolgreicher, ehrgeiziger Arzt, während Misa eher haltlos von Beziehung zu Beziehung, von Ort zu Ort irrt – immer auf der Suche nach ihrem persönlichen Platz im Leben. Die Lebensentwürfe der Geschwister sind so unterschiedlich, dass die Kluft zwischen ihnen immer größer wird, obwohl sie sich beide das Gegenteil wünschen.
Die Suche nach Glück, Beständigkeit, Heimat und sich angenommen fühlen begleitet den Roman wie ein roter Faden. Behutsam erzählt Susanne Gregor vom Suchen und Finden, von Angst und Hoffnung, Loslassen und Neubeginn, und die sich abwechselnden Erzählperspektiven geben tiefe Einblicke in das Seelenleben der beiden Geschwister. Ein Roman, der beeindruckt, fesselt und viel Hoffnung versprüht!
Zurück ans Wasser, beziehungsweise direkt ins Meer:
„Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis (mare Verlag; Übersetzung: Klaus Bonn) ist ein kleines, literarisches Meisterwerk, das bereits 1937 erschienen ist und nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.
Der erfolgreiche New Yorker Geschäftsmann Henry Preston Standish – glücklich verheiratet, zwei Kinder – kämpft mit einem Burnout und verordnet sich selbst eine kleine Auszeit von Familie und Job. Da er ein Faible für Sonnenauf- und -untergänge hat, tritt er eine Schiffsreise über den Ozean auf dem Frachter Arabella an. So glücklich und zufrieden ihn die Zeit auf dem Schiff macht, so unglückselig und banal ist der falsche Schritt auf einem Ölfleck, der ihn direkt ins Meer befördert. Nun befindet sich Mister Standish mutterseelenallein im Pazifik, keiner hört seine Hilferufe und die Arabella fährt unbeirrt weiter. Er ist davon überzeugt, dass sein Verschwinden schon bald entdeckt und er gerettet wird, aber umso kleiner das Schiff in der Ferne wird, umso schneller dreht sich sein Gedankenkarussell: Gefühle wie Hoffnung, Verzweiflung, Wunschdenken, Selbstironie, Hilflosigkeit und Resignation wechseln sich ab und existenzielle Ängste beherrschen zunehmend sein Denken. Gleichzeitig wird leichtfüßig von der Weiterfahrt auf dem Frachter erzählt, wo die anderen Passagiere zwar sein Verschwinden bemerken, aber ihre ganz eigenen Erklärungsmodelle dafür parat haben.
Tragik und Komik gehen in dieser eleganten und sehr tiefgründigen Novelle Hand in Hand:
„Es gab so eine großartige Geschichte zu erzählen, wenn er denn nur gerettet werden könnte! Die Welt bedurfte der Geschichte: eine Erzählung des Mutes angesichts des Unheils von der elementarsten Art, eine Erzählung der Hoffnung, genährt durch ein tapferes Herz!“
Ein zeitloses Portrait der Gesellschaft und gleichzeitig ein literarisches Schatzkästchen, das zum Lachen einlädt, zu Tränen rührt und dabei die großen Fragen der menschlichen Existenz pointiert zusammenfasst – ein großes Glück, dass „Gentleman über Bord“ nach über 70 Jahren wieder aufgetaucht ist und unser Lese-Herz nun bereichern kann!!
Für alle Wasserratten, Meernixen und Schwimm-Junkies hat die Hamburger Autorin Kristine Bilkau mit „Wasserzeiten“ (Arche Verlag) eine wunderbare Hommage auf das Schwimmen geschrieben. Ihre persönlichen Miniaturen über ihr schwimmendes Sein erzählen von Orten, Arten, Erfahrungen und Gefühlen, die die passionierte Schwimmerin mit dem Wasser verbindet. Kristine Bilkau beschreibt mit viel Poesie einen verregneten Sommertag in Dänemark, an dem ihr Vater ihr im ansässigen Hallenbad das Schwimmen beigebracht hat, sie erinnert sich an die Zeit während Corona, als das Schwimmbad für sie ein Ort der Freiheit, der Ruhe und der unendlichen Gedanken war, sie schwärmt von dem magischen Moment, wenn im Frühling das Freibad wieder seine Tore öffnet und sie erzählt von den vielen wunderbaren, manchmal auch skurrilen Begegnungen, die sie im Wasser erlebt hat. Egal zu welcher Jahreszeit und an welchem Ort sich Kristine Bilkau gerade befindet – einen Badeanzug hat sie immer im Gepäck. Ihre spürbare Leidenschaft für das kühle Nass ist so ansteckend, dass man am liebsten sofort in erfrischende Fluten abtauchen möchte:
„Nachdem ich 1500 Meter geschwommen war und an der Leiter aus dem Becken stieg, etwas kühlen Wind auf der nassen Haut, fühlte ich mich wie Wonder Woman. Schwimmen, so viel weiß ich inzwischen, löst keine Probleme, aber es kann für Klarheit und Mut sorgen, um sich ihnen zu stellen.“
Wie schön, dass wir drei Exemplare von Kristine Bilkaus inspirierender Liebeserklärung an das Wasser auf Instagram verlosen dürfen – ein herzliches Dankeschön an den Arche Verlag!!!
Nachdem wir dieses Jahr bis jetzt noch nicht mit viel Sonne und warmen Temperaturen verwöhnt worden sind, haben die wunderschönen Buchcover voller Blautöne meine Lust auf Sommer und Wasser noch mehr geweckt und ich freue mich riesig auf die nächsten Ferien und eine entspannte Zeit am Meer.
Ich wünsche euch Sonne und ein herrliches Plätzchen im Freibad, am See, Meer oder irgendwo mit den Füssen im Wasser und einem guten Buch in der Hand –
wir lesen uns!
Eure Buchstaplerin
© FTF, Sabine Fuchs und Ulrike Heppel
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