Die Buchstaplerin #3
Ein Wort, das für mich ganz eng mit der Herbstzeit verbunden ist, kommt aus dem Dänischen und heißt „hygge“ (gesprochen: hügge).
Eine eindeutige Übersetzung für „hygge“ scheint es nicht zu geben.
Der Langenscheidt versucht es mit „Gemütlichkeit“, ursprünglich aber bedeutet es wohl „hegen“ und „Wohlbefinden verbreiten“ – und doch beinhaltet „hygge“ noch viel mehr:
Ein flackerndes Kaminfeuer, ein Meer von brennenden Kerzen, eine heiße Tasse Tee, ein wohliges Schaumbad, eine kuschelige Wolldecke, ein mit viel Liebe zubereitetes Abendessen, ein gemütlicher Abend mit Freunden oder einfach ein schönes Buch, das den Alltag in den Hintergrund treten lässt.
Alte Sorten von Ewald Arenz ist ein Buch, das glücklich macht und in den Herbst passt wie kaum ein anderes: Die Geschichte um zwei Frauen spielt zwischen dem 1. September und dem 15. Oktober.
„Was war in diesem Septemberleuchten, in diesem hohen Himmel, in diesem Morgen?
Es war, als wollte die Welt noch einmal zeigen, wie schön sie sein konnte, wie viele Farben sie hatte, wie frisch sie riechen konnte.“
Die zornige und ziemlich unglückliche 17-jährige Sally ist aus einem Therapiezentrum für Essstörungen getürmt und versteckt sich in den unterfränkischen Weinbergen. Dort wird sie zufällig von der Bäuerin Liss angesprochen, weil diese Hilfe benötigt. Sally, die einfach nur in Ruhe gelassen werden möchte, zieht zusammen mit Liss tatsächlich deren Wagen aus dem Graben.
Die ruhige und anpackende Liss lässt Sally bei sich wohnen, ohne ihr viele Fragen zu stellen. Überhaupt verhält sich Liss anders als die Erwachsenen aus Sallys Umfeld: Sie zeigt sich nicht misstrauisch, sie urteilt nicht vorschnell und sie akzeptiert Sally so wie sie ist.
Denn Liss weiß, was es heißt, eine Außenseiterin zu sein: Ein dunkles Geheimnis umgibt sie, deren Geister sie immer wieder heimsuchen und das sie auf ihrem Hof sehr einsam hat werden lassen.
Aus Tagen werden Wochen, in denen sich die so unterschiedlichen Frauen immer weiter annähern. Die Natur bestimmt ihren Alltag mit der Kartoffelernte, dem Schroten von Roggen, dem Ausnehmen eines Rehs und der Arbeit in den Weinbergen und auf den Obstwiesen. Die beiden verstehen sich ohne viel Worte und geben einander Kraft, doch Jugendamt, Polizei und Eltern sind Sally auf den Fersen ...
Ewald Arenz „Alte Sorten“ hat sich in mein Herz geschlichen, mich tief berührt und den diesjährigen Herbst noch bewusster erleben lassen. Schon allein bei den Beschreibungen der Natur und der bäuerlichen Tätigkeiten wie dem Imkern, der Birnenernte oder der Schnapsbrennerei gelingt es Arenz, mit seiner fast schon poetischen Sprache alle Sinne zu berühren.
Aber auch von der nahezu wortlosen Annäherung der beiden verletzten Seelen erzählt er tiefgründig, empathisch und mit psychologischem Feingefühl, sodass man sich in die Charaktere gut hineinversetzen kann und die beiden auf ihrem Weg der Heilung begleiten darf.
Ein bezaubernder, sensibler und vielschichtiger Roman, der mich die Natur und meine Umgebung wieder mit anderen Augen hat sehen lassen und der mich von innen gewärmt hat wie die Sonnenstrahlen eines tiefblauen Herbsttages.
Auch Bären füttern verboten von Rachel Elliott ist für mich ein Seelenwärmer, der auf jeder Buchseite magisches entstehen lässt und der mich direkt in den kleinen Küstenort St. Ives gezaubert hat. Es gelingt nicht vielen Romanen, mich derart in eine Geschichte und deren Protagonisten abtauchen zu lassen, dass ich nach einigen Lesestunden dem Alltag und meinen Mitmenschen beglückt und achtsam neu begegne.
Sydney Smith ist Freerunnerin und entschließt sich an ihrem 47. Geburtstag nach St. Ives zu reisen, dem Ort, an dem ein tragisches Ereignis vor 30 Jahren sie bis heute traumatisiert. Sie hofft durch ihren Besuch die Geister der Vergangenheit endlich hinter sich lassen zu können. Sydney ist aber nicht die Einzige, die ihre Probleme wie ein Päckchen mit sich herumträgt:
Sydneys Lebensgefährtin RUTH steht ihrer Freundin trotz aller Unwegbarkeiten zur Seite, die Buchhändlerin BELLA hat ein Herz für Otter, aber mit der Liebe hat sie abgeschlossen, ihr Kollege DEXTER zeigt sich gerne mal in Frauenkleidern, MARIA verteilt Muffins mit heilenden Kräften und Bellas treuer Hund STUART kommentiert das Ganze aus seiner Sicht.
All die skurrilen Bewohner, die wir beim Lesen kennenlernen dürfen, kämpfen mit ihren Dämonen der Vergangenheit, suchen Glück und Sinn in ihrem Leben und werden fündig im gegenseitigen Miteinander, das auch in den tiefsten Tiefen Mut und Hoffnung gibt und den „eigenen Kahn zum Schwimmen bringt“.
Rachel Elliott ist Psychotherapeutin und das merkt man ihren Figuren auch an: Sie beschreibt alle Charaktere so liebevoll und detailliert, dass man beim Lesen das Gefühl hat, sie schon lange zu kennen.
„Bären füttern verboten“ ist ein berührendes, kluges, poetisches, warmherziges, humorvolles und tröstliches Buch, das uns zeigt: Es ist nie zu spät für einen Neubeginn!
Allein schon die Überschriften der einzelnen Kapitel versprechen ein Feuerwerk der Emotionen:
Möchtet ihr nicht auch bei „Nennen Sie es, wie Sie wollen, es stinkt trotzdem“, „Ein fallender Groschen“ oder „Ein zuckerfreies Stückchen Rebellion“ sofort wissen, was es damit auf sich hat?
Dann begleitet die über Dächer hüpfende Sydney nach St. Ives und ich verspreche euch, ihr werdet neue Freunde fürs Leben finden!!!
„Wir alle sind über unser Unbewusstes miteinander verbunden. Wir sind nicht getrennte Einzelwesen, sondern wir lösen etwas ineinander aus, stoßen etwas ineinander an. Das ist das, was wir Zufall, Fügung, Synchronizität nennen.“
Ein wohltuendes und gleichzeitig sehr inspirierendes Buch, das man auch mal zwischendurch gerne zur Hand nimmt, ist für mich Die Schule meines Lebens von Matze Hielscher.
Matze Hielscher ist bekannt für seinen grandiosen Podcast Hotel Matze, in dem er regelmäßig Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Unternehmer*innen, Schauspieler*innen und andere kreative Mitmenschen interviewt und ihnen ganz besondere Fragen stellt:
„Was möchtest du gewesen sein?“
„Was lernst du gerade, was du noch nicht so gut kannst?“
„Was würdest du auf eine große Plakatwand am Berliner Alex schreiben?“
Matze findet zu seinen Gesprächspartner*innen einen besonderen Draht, der mehr entstehen und erfahren lässt als in anderen Interviews.
In „Die Schule meines Lebens“ erzählt Matze Hielscher von diesen Begegnungen, vom ersten Kontakt, was er von ihnen gelernt hat, an welcher Stelle er überrascht wurde und dabei sind die wichtigsten Zitate farblich hervorgehoben.
Man erfährt von Giovanni di Lorenzo, warum Erfolg nicht das Wichtigste ist, von Nora Tschirner, wie wichtig Pausen und Zäsuren im Leben sind, von Doris Dörrie, wie man beim Nudelkochen kreativ sein kann, von Atze Schroeder, wo er seine künstlerische Seite auslebt, und von Sabine Rückert, warum das Älterwerden für Frauen so eine tolle Sache ist.
Ein Buch wie eine Schatztruhe, die man immer wieder öffnet, um inspirierende Portraits zu lesen, sich von klugen Sätze zum Nachdenken anregen zu lassen, sich Lebenstricks anzueignen, den eigenen Mut und Entscheidungswillen anzustacheln oder einfach nur, um eine gute Zeit zu haben.
„Der Herbst ist die Jahreszeit, in der die Natur die Seite umblättert.“
(Pavel Kosorin)
Nun macht es euch auf dem Sofa mit einer Tasse Tee oder Kakao so richtig hyggelig, zündet ein paar Kerzen an und genießt die Zeit mit einem guten Buch!
Wir lesen uns!
Eure Buchstaplerin
© FTF, Sabine Fuchs und Ulrike Heppel
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Kommentare
Liebe Corinne,
danke für die tollen Tipps. Sie werden meinen Herbst so richtig hyggelig machen .
LG
Sabine
Sehr gerne, liebe Sabine!
Dann wünsche ich dir gemütliche Lesestunden!!
Danke für die tollen Buchtipps! Mir sind sowohl die alten Sorten als auch Bären füttern verboten schon vorher im Buchladen begegnet, aber erst durch diesen Beitrag habe ich richtig Lust bekommen, die beiden zu lesen. Einen sonnigen, hyggeligen Herbst allerseits!
Liebe Marlen,
vielen Dank, das freut mich sehr!!
Beide Romane sind wunderbare Wohlfühl-Bücher, die beim Lesen eine entspannte Auszeit schenken. Erzähl mir gerne, wie sie dir gefallen haben!!
Wir lesen uns!
Die Buchstaplerin
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